Der plötzliche Wandel in der Laufkultur: Warum predigen jetzt alle den Anti-Hustle?
- Nele Doerk
- 3. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Okt.
Huch! Plötzlich definiert sich das Laufen nicht mehr über Zeiten, Distanzen und mehr Ästhetik als Humbleness – oder ist's doch nur Marketing? (M)eine kritische Betrachtung des aktuellen Diskurswandels in der deutschen Laufszene und warum Laufgruppen, große Content Creator und Marken jetzt inklusiv(er) werden wollen.

Die letzten Wochen habe ich auf den sozialen Medien etwas sehr Bemerkenswertes wahrgenommen: Eine sprachliche Verschiebung, die sich innerhalb weniger Tage durch viele Lauf-Communities, Content Creatoren und auch Sportmarken zieht. "Running is not about personal Bests or Distances" – diese oder ähnliche Formulierungen erscheinen plötzlich bei Accounts, die noch vor Kurzem eine ganz andere Sprache an den Tag legten. Accounts, die Pace-Vorgaben als Eintrittsbarriere kommunizierten, die 5:30er-Standards als selbstverständlich und SOCIAL PACE präsentierten, die ihre gesamte Identität auf messbarer Leistung aufbauten.
Interessant.
Die Beobachtung: Ein synchroner Shift in der Laufbotschaft
Was mich aufmerksam werden lässt, ist nicht der Inhalt dieser neuen Botschaften – ich vertrete diese Position seit über zwölf Monaten (JA!), sondern die zeitliche Synchronizität und die Geschwindigkeit, mit der dieser Wandel stattfindet. Innerhalb einer Woche tauchen bei mehreren größeren deutschen Running Clubs und Lauf-Influencern nahezu identische rhetorische Muster auf – als hätten sich alle plötzlich abgesprochen.
Befinden wir uns aktuell in einem Wandel, weil das Thema "Elitismus und Gatekeeping in Laufgruppen" nun doch wahrgenommen UND ernst genommen wird?
RUNNERFEELINGS und meine Position: Die Last der Vorläuferin
Ich habe vor sieben Monaten für die Runner's World einen Artikel über Elitismus und Gatekeeping in Laufgruppen geschrieben, nachdem meine zwei Artikel hier auf RUNNERFEELINGS zu dem Thema durch die Decke gegangen sind. Damals war diese Positionierung noch unbequem, es gab Gegenwind und kritische Kommentare von großen Laufgruppen, die wir ALLE kennen.
Ich habe diese Perspektive nicht gewählt, weil sie strategisch klug war, sondern weil sie notwendig war. Weil ich selbst die Erfahrung gemacht habe, aus der Performance-Maschinerie herauszufallen und dabei fast das Laufen selbst zu verlieren. Weil ich gesehen habe, wie Menschen, die mit 7:00er Pace laufen, keine Laufgruppe mehr finden. Weil ich seit 2018 dafür stehe, dass die wahren "runnerfeelings" nichts mit der Uhr zu tun haben.
Und jetzt erlebe ich, wie die gleiche Botschaft plötzlich zum Mainstream wird – aber ich kann noch nicht erkennen, ob aus Einsicht oder aus Trotz.
Versteht mich nicht falsch – wer, wenn nicht ich, ist absolute Befürworterin dieser Bewegung! Doch wenn all die Personen, die vor zwei Wochen noch von den größten Rennen gesprochen haben, bis auf äußerliche Schmerzen ihre 300 Kilometer laufen und der Meinung sind, "Mind over Body", auf einmal eine komplett andere Message fahren, dann wird mir übel.
Stellen wir uns nun der wichtigsten Frage: Warum passiert all das jetzt?
Die Analyse der Laufkultur: Warum sind jetzt alle für Anti-Hustle?
Um zu verstehen, was hier passiert, müssen wir einige verschiedene Ebenen betrachten. Wir arbeiten uns gemeinsam vor, okay?
1. Die algorithmische Dimension
Social-Media-Algorithmen sind – suprise– nicht neutral. Sie verstärken bestimmte Inhalte basierend auf Engagement-Metriken. Wenn sich zeigt, dass der "wholesome running content" oder Anti-Hustle-Narrative aktuell höhere Engagement-Raten erzielen als Performance-Content, entsteht ein ökonomischer Anreiz zur Anpassung. Ja, auch ich adaptiere hier und da die Trends.
Die Plattform-Logik belohnt nicht Konsistenz, sondern Adaptionsfähigkeit. Wer als Creator wirtschaftlich überleben will, muss den Algorithmus verstehen.
2. Die soziokulturelle Erschöpfung
Nach Jahren von Hustle Culture, Productivity Porn und Selbstoptimierungsimperativen erleben wir gesellschaftlich eine Phase der Erschöpfung. Wir Menschen sehnen sich nach Entschleunigung, nach Räumen ohne Leistungsdruck. Manchmal haben wir alle ja auch vom Laufen die Nase voll, nicht wahr?
Lauf-Communities, die diese Sehnsucht spüren, passen ihre Kommunikation an. Die Frage ist: Spüren sie es wirklich? Ich weiß es nicht.
3. Die Marktlogik der Inklusivität
Für mich mitunter die wichtigste und sehr logische Ebene: Aus unternehmerischer Perspektive ist Inklusivität natürlich ein Wachstumsmarkt. Eine Community, die nur die schnellsten oder besten 10 % anspricht, hat eine natürliche Wachstumsgrenze. Eine Community, die sich als "für alle" positioniert, erschließt einen deutlich größeren Markt.
Das ist nicht per se verwerflich – aber es erklärt, warum der Wandel so plötzlich kommt. Es ist nicht zwingend eine ethische Einsicht, die hier wirkt, sondern möglicherweise eine ökonomische Kalkulation. Wie gesagt – möglicherweise.
4. Das Reputationsmanagement und Dark Social
In geschlossenen Gruppen, also offline oder in Chats, WhatsApp etc. wird oft anders gesprochen als auf Instagram. Es ist möglich, dass es hinter den Kulissen Feedback, Kritik oder sogar Goodbyes gab von Menschen, die sich ausgeschlossen fühlten. Ein öffentlicher Kurswechsel kann dann auch eine Strategie sein, um diese Schäden zu begrenzen und sich neu aufzustellen.
Und ganz ehrlich? Ich bin mir sehr sehr sicher, dass es dieses Feedback gab. Schon alleine, weil ich es sehr oft gebe und von vielen Seiten höre!
Der Lackmustest im Laufen – Woran erkennen wir Anti-Elitismus und echtes Storytelling in der Laufkultur?
Wenn wir zwischen authentischer Transformation und strategischer Anpassung unterscheiden wollen, brauchen wir konkrete Indikatoren. Doch bitte mit Vorsicht genießen: Sie besitzen keine Allgemeingültigkeit und ich glaube auch, dass es am Ende mehr braucht – allerdings ist eine Orientierung erstmal nicht verkehrt.
1. Die Laufevents
Steht in der Gruppen-Beschreibung immer noch "Social Pace, 5:30 - 6:00"? Glückwunsch, du hast gerade 70 % potenzieller Teilnehmer:innen ausgeschlossen. Echte Inklusivität zeigt sich darin, dass es tatsächlich Pace-Gruppen für alle Geschwindigkeiten gibt. Und zwar nicht eine "schnelle Gruppe" und eine "Anfängergruppe" (weil wir alle wissen, wie das gemeint ist), sondern gleichwertige Gruppen für unterschiedliche Paces.
2. Die DMs
Hier wird es richtig spannend: Schreib der Laufgruppe mal eine Nachricht. "Hi, ich laufe so 7:00er Pace, kann ich mitmachen?" Die Antwort wird dir mehr verraten als jeder Instagram-Post. Ist es ein enthusiastisches "Klar, bei uns sind alle willkommen!"? Oder ein höfliches "Hmm, vielleicht wäre XY besser für dich geeignet"? Die Kommunikationspraxis in geschlossenen Räumen ist der wahre Test.
3. Die Zeit
Und jetzt die wichtigste Frage: Wo stehen wir in sechs Monaten? Ist die "Laufen ist nicht über Zeiten"-Phase dann schon wieder vorbei, weil der nächste Content-Trend ruft? Oder hat sich tatsächlich eine konsistente, langfristige Haltung entwickelt? Ich hoffe ja Letzteres.
Die philosophische Dimension: Was ist eigentlich "echtes" Laufen?
Die gesamte Debatte um Gatekeeping und Inklusivität berührt eine grundlegende Frage: Wer definiert, was "richtiges" Laufen ist? Ja ich weiß – ich würde die Erklärung auch gerne irgendwann mal überspringen. Aber wir sind noch nicht so weit. So stay with me.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (krasser Logiker und Sprachphilosoph übrigens!) hat in seinen Überlegungen zu Sprachspielen gezeigt, dass Bedeutung durch Gebrauch entsteht und nicht durch Definitionen. Übertragen bedeutet das: Es gibt kein "wahres Wesen" des Laufens, das wir freilegen könnten.
Stattdessen gibt es verschiedene Praktiken des Laufens, die alle ihre Berechtigung haben:
Das Laufen als meditative Praxis
Das Laufen als Gemeinschaftserlebnis
Das wettkampforientierte Laufen als sportliche Herausforderung
Das therapeutische Laufen
Der Konflikt entsteht, wenn eine dieser Praktiken Allgemeingültigkeit für sich beansprucht – wenn sie zur Norm wird, an der alle anderen gemessen werden.
Was wir in den letzten 1-2 Jahren beobachtet haben, war die Vorherrschaft des leistungsorientierten Laufens. Unsere Laufuhr und auch Strava wurde zur wichtigsten Basis: Nur was gemessen wird, zählt. Nur was in Zahlen übersetzt werden kann, hat einen Wert. Traurig.
Die Gegenbewegung, die wir jetzt erleben (oder zu erleben scheinen), ist der Versuch, diese Hegemonie zu brechen. Die Frage ist: Ist es ein echter Paradigmenwechsel oder nur eine rhetorische Umrahmung derselben Strukturen?
Die Gefahr der Vereinnahmung: Laufkultur im Wandel
Es gibt ein Phänomen, das im Kontext sozialer Bewegungen als Cooptation bezeichnet wird: Die Übernahme kritischer Diskurse durch genau jene Strukturen, die kritisiert wurden, jedoch ohne Veränderung.
Beispiel: Wenn eine Brand "Body Positivity" vermarktet, während die Produktionspalette weiterhin primär kleine Größen umfasst. Oder wenn der große Begriff "Feminismus" zum Marketing-Tool wird, ohne dass patriarchale Strukturen angefasst werden.
Die Gefahr bei der aktuellen Entwicklung in den Lauf-Communities ist genau diese: Dass "Inklusivität" zum Branding-Element wird, ohne dass die exkludierenden Mechanismen am Ende abgebaut werden. Dass wir eine neue Ästhetik des Laufens bekommen – weicher, softer, "wholesomer" –, während die Machtstrukturen dieselben bleiben.
Mein Fazit
Ich will niemandem die Möglichkeit echter Entwicklung absprechen. Marken, Menschen und Organisationen können lernen und ihre Perspektiven erweitern – hey, I did the same!
Und eins sei gesagt: Ich werde beobachten. Und ich werde in ein paar Monaten, in einem Jahr zurückschauen und sehen: War das ein Wendepunkt oder ein Narrativ-Trend?
Die Frage ist nämlich nicht nur, was gesagt wird, sondern ob das Gesagte tatsächlich eine neue Realität schafft oder lediglich eine bestehende Realität neu rahmt.
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